Text: Jakob Steinkellner; Fotos: Maria Frodl, Reinhard Winkler
Anfänge
Ganz im positiven Sinne „schuld“ daran, dass Prof. Alfred Melichar (1957 in Wien geboren) den Weg zum Akkordeon fand, sind einerseits seine Mutter, andererseits – und zwar eigentlich noch viel mehr – seine Schwester. Schon jeher war im Familienhaushalt, der sich im österreichischen zehnten Wiener Arbeiterbezirk „Favoriten“ befand und in dem Melichar aufwuchs, ein Akkordeon vorzufinden. „Meine sieben Jahre ältere Schwester war mit dem Akkordeon nicht glücklich und gab nach drei Jahren wieder auf. Nun war ich gewissermaßen die Hoffnung der Familie“, scherzt der Professor heute schmunzelnd. Eine schicksalhafte und zukunftsweisende Fügung, wie sich später herausstellen sollte.
Prof. Alfred Melichar
Foto: Reinhard Winkler
Aber wie ist dieses Umdenken musikgesellschaftlich möglich? „Weitestgehend durch Kooperationen mit engagierten Komponist*innen in der nationalen sowie internationalen Szene“, schildert Melichar. Gerne erzählt er seinen Studierenden Anekdoten seiner Anfangsjahre als Professor, in denen er unzählige Briefe (ja, per Post!) an alle möglichen Kontaktpersonen adressierte. Er bat um Stücke für oder mit Akkordeon, egal ob solistisch oder kammermusikalisch. Somit begann das instrumentale Mühlrad langsam zu mahlen.
„Als ich als junger Lehrer anfing, blickte man auf das Akkordeon noch sehr von oben herab. Aber dann folgten gewisse Ereignisse wie beim Coupe Mondiale (1983), als beim Festkonzert Fridolin Dallingers ‚Konzert für Akkordeon Streichorchester‘ uraufgeführt wurde. Schön langsam wurde das Akkordeon salonfähig, und das übersah, nein, vielmehr ‚überhörte‘, auch die Musikszene nicht.“
Neue Literatur
Prof. Alfred Melichar stellte das Akkordeon in den Folgejahren weltweit in studentischen Kompositionsklassen (wie beispielsweise an der Jerusalem Academy of Music), aber auch bei Komponisten selbst vor. Diese erkannten unweigerlich die Vorzüge, den stilistischen Facettenreichtum, aber auch das instrumentale Neudenken als obligatorisch nächsten Schritt, um das Akkordeon in höhere Sphären zu manövrieren. Über die Jahre entstanden zahlreiche Neukreationen akkordeonistischer Solo- und Kammermusikliteratur in Zusammenarbeit mit namhaften Komponisten wie Fridolin Dallinger, René Staar, Erich Urbanner, Friedrich Cerha, Tera de Marez Oyens oder Dieter Kaufmann. Letztgenannter komponierte für Alfred Melichar das Stück Grand Jeu: Für Akkordeon und Tonband, Op. 70, welches der Instrumentalist mehrere Dutzend Mal quer über den Globus aufführte. „Grand Jeu war sozusagen einer meiner Bestseller“, fügt er hinzu. Bei dem Werk handelt es sich um ein viertelstündiges Werk mit theatralischen Zügen, welches als absoluter absolutes Highlight immer für ausgefallene Stimmung im Publikum sorgt.
Aufnahmen von Dieter Kaufmanns Grand Jeu oder Tera de Marez Oyens Linzer Konzert können Sie auf Melichars Homepage nachhören: www.alfredmelichar.com.
Neue Musik und noch viel mehr
Melichar, der in seinem Künstlerdasein viele Uraufführungen konzertiert(e), trägt bis heute dazu bei, die Akkordeonszene mitzugestalten. Als instrumentale Visitenkarte gilt dabei seit jeher die zeitgenössische Musik. „Ich habe mir immer ein großes Maß an Offenheit und Neugier verordnet“, verrät Melichar. Exakt jene Wissbegier, das Interesse an modernen Klängen und Ideen, aber auch der aktive Weg hin zu Komponierenden entlockten der Musikwelt eine Großzahl an neuem Musikgut.
Dass diese Münze zweiseitig ist, wurde dem Pädagogen bald bewusst. „Man ist ja schnell mit dem Vorurteil konfrontiert, stilistisch einseitig zu sein, oder beispielsweise, dass man nur Neue Musik am Akkordeon spielen möchte. Da ich mich jedoch als sehr ehrgeizigen Menschen bezeichnen würde, wollte ich dem immer gezielt entgegenwirken“, erklärt er. Die stilistische Vielfalt, der Blick über den instrumentalen und musikalischen Tellerrand hinaus sowie die geistige Uneingeschränkt und Offenheit sind nur einige wenige Aspekte, die für Melichar aus persönlicher Sicht, aber auch im Rahmen seiner Professorentätigkeit von hohem Stellenwert sind.
Lehr- und Konzerttätigkeit
Früher, also in den Grundzügen der Akkordeonausbildung in Linz, war Alfred Melichar hauptsächlich mit der Entwicklung eines Gesamtkonzeptes und dem allgemeinen Aufbau des Studiengangs beschäftigt. Welche Eckpfeiler sind wichtig? Welche Aspekte sind für Studierende wirklich essenziell, um das Akkordeon pädagogisch, aber auch künstlerisch fachgerecht und adäquat unterrichten zu können? Dinge wie diese pendelten sich im Zeitrahmen der ersten Dekade ein und der Fokus des anfänglichen Lehrschwerpunktes fiel folglich auf den rein künstlerischen Bereich. Dieser stellt den Professor bis heute immer wieder vor neue Herausforderungen, und speziell jene Abwechslung empfindet Melichar als enorme Genugtuung.
Projiziert man diese Gesinnung auf ihn selbst, wird unmissverständlich klar, dass er nach wie vor für glanzvolle Bühnenmomente im Rampenlicht lebt und förmlich nach diesen Augenblicken sucht. Er arbeitet beispielsweise mit dem anerkannten Ensemble Wiener Collage (Melichar ist Obmann der Formation) und konzertiert bis heute mit Orchestern wie den Wiener Philharmonikern, dem RSO Wien, den Tonkünstlern Niederösterreich, dem RSO Hilversum, den RSO Ljubljana, der Camerata Athen und vielen mehr. Im Hinblick auf seinen Lehrauftrag versinnbildlicht seine Konzerttätigkeit nicht nur eine enorme Vorbildwirkung für alle Studierenden; seiner Meinung nach, so erklärt er im Interview, sei es als guter Pädagoge im künstlerischen Bereich wichtig, künstlerische Erfahrungen zu haben, um diese adäquat weitergeben zu können.
Einblick in die Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft
Melichar wollte seinen Studierenden immer möglichst alle Blickwinkel auf die Musik, das Akkordeon, aber auch das Leben in Kunst, Kultur und auf persönlicher Ebene lehren. Er vermittele „Neugier, Interesse, Aufgeschlossenheit für neue Wege in der Musik, Drang zur Selbsttätigkeit und vor allem, dass man immer mit offenen Augen sowie Ohren durch das Leben geht“, so schildert er. Während des Interviews ist auf seinen Lippen aber auch ein Hauch von Nostalgie in Wort und Mimik zu erkennen, denn der langjährige Professor wird im September 2022 die hochverdiente Pension antreten.
Für die Zukunft des Akkordeons wünscht er sich, dass es weiterhin ein vielgespieltes Instrument mit anhaltendem Drang zur Weiterentwicklung bleibt, welches aus dem Instrumentarium nicht mehr wegzudenken ist. Aus persönlicher Sicht erhofft sich Melichar in der nächsten Etappe seines Lebens „noch für viele Jahre Kraft und Energie, um weiterhin konzerttätig sein zu können“. Prof. Melichar lebte offensichtlich nach dem Motto: „Man ist immer so jung wie man sich fühlt!“, und mit exakt jenem jung gebliebenen Esprit und Elan wird er sich auch diese Träume bis ins hohe Alter verwirklichen. Wie schon einige Zeilen im Text (aber eigentlich 40 Jahre) zuvor, gilt: Visionen wurden und werden zu gelebter Realität … Dabei drückt die Akkordeonwelt die Daumen!
Jahrelang prägte Prof. Alfred Melichar nicht nur sein internationales Umfeld und die Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, sondern auch eine Vielzahl von Musizierenden, die durch seine pädagogische und künstlerische Expertise auch nächste Generationen beeinflussen werden. Zudem hat Melichars umfassendes Engagement sehr wesentlich dazu beigetragen, dass das Akkordeon die Anerkennung hat, die wir heute kennen. Nach unfassbaren vier Dekaden ist es nun für ihn an der Zeit, den Schlüssel seines universitären Vermächtnisses ab- und weiterzugeben. Doch dieser Abschied ist schlicht als ein Adieu auf pädagogischer Ebene zu betrachten, denn es folgt direkt ein herzliches Grüßgott in vollkommener Selbständigkeit als Künstler und Bühnenmensch.
Interview mit Prof. Alfred Melichar am 10. Februar 2022
Aufmacher-Foto:
Prof. Alfred Melichar
Schönes Interview. Vielen Dank.
Wie erklären Sie sich die neue Popularität des Tastenakkordeons in der internationalen Musikwelt, in der die Vorzüge des Knopfakkordeons keine Rolle mehr zu spielen scheinen?